Die Sehnsucht nach Bindung

von | Dez 24, 2022

Weihnachten zeigt sich für viele als ein Dilemma: Es macht die Sehnsucht nach Verbundenheit und Liebe spürbar, während viele gleichzeitig überfordert sind, eben diese herzustellen und zu leben – aus gutem Grund.

Wir Menschen sind Bindungswesen, von unserer Geburt bis zu unserem Tode. Wir brauchen Bindung, Wärme, Fürsorge und liebende Augen, in denen wir uns selbst spiegeln und erkennen können. Die Liebe in den Augen der Eltern wird zur Liebe des Kindes zu sich selbst. Kinder brauchen die liebenden Blicke der Erwachsenen, die ausdrücken „Ich bin für Dich da, Du bist okay, so wie Du bist!“ Dieses Okay wird zum inneren „Ich bin ok! Ich bin liebenswert!“

Doch nicht immer können Eltern diese Liebe schenken. Manchmal haben Eltern eigene Bindungsverletzungen, hatten bereits Eltern, die nicht für sie da sein konnten, haben Ängste, sind überfordert oder emotional abwesend. Dadurch entwickelt sich im Kind der Glaube „Ich bin nicht okay, ich bin nicht liebenswert, ich bin schuld, ich bin einsam, ich muss mich anstrengen, ich genüge nicht“. Die Folge sind chronische Scham, chronische Schuldgefühle, Selbstvorwürfe oder Schuldabwehr gegenüber anderen. Diese führen oft ihr Eigenleben in uns – oft unbewusst, manchmal ein Leben lang.

Wir Menschen versuchen, diese schmerzhaften Erfahrungen, Ängste und negativen Glaubessätze zu bewältigen. Wir entwickeln eine Vielzahl von Schutzmustern: Wir deckeln und zeigen unsere Gefühle nicht nach außen, wir rationalisieren, intellektualisieren, flüchten in Süchte, manchmal in Spiritualität, oder wir erzählen uns, dass wir gut allein klarkommen und niemanden brauchen. Oft kümmern wir uns auch um andere Menschen, um unsere eigene Bedürftigkeit nicht zu fühlen. Oder wir tragen nagende Wut und Ärger in uns, sind getrieben und hungern nach Liebe. Die Sehnsucht nach Bindung und Liebe treibt uns an, weil wir Menschen sind und Bindung ein tiefes menschliches Grundbedürfnis. Oft wiederholen wir auf tragische Weise unsere erfahrene Bindungsnot in unseren Liebesbeziehungen. Denn die Bindungen, die wir als Liebespaar eingehen, sind eine erwachsene Version von Eltern-Kind-Bindung. (Sue Johnson: https://www.youtube.com/watch?v=a0IYQGXiJxw).

Dann protestieren die einen, werden wütend und ärgerlich, wenn der Partner sich zurückzieht oder „abgeschaltet“ erscheint. Und die anderen versuchen, mit vermeintlicher Ruhe und Rationalität die Wogen zu glätten, um die Beziehung zu schützen. Paare geraten dabei oft in einen Teufelskreis aus Wut, Ärger und Rückzug – wobei beide, ohne es in vielen Fällen zu merken, um die Bindung kämpfen, jede/r auf seine Art, die für den anderen wiederum nur ein Auslöser für die eigene Bindungsnot ist.

Gerade an Weihnachten werden die schmerzlich erfahrenen Bindungsnöte oft wieder lebendig und die unerfüllten Bindungssehnsüchte brechen sich Bahn: Ein Geschenk, das nicht gefällt, wird der Auslöser für die Not, noch nie wirklich in der Tiefe mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen gesehen und gehört worden zu sein. Hinter den Konflikten um den Weihnachtsbaum, die Rituale, das Weihnachtsessen, die Familie versteckt sich oft die unerfüllte Sehnsucht, dass es endlich, endlich schön, verbunden, warm und nah wird….

Zum Glück ist es nie zu spät für eine glückliche Kindheit (Milton Erickson). Unser Gehirn ist flexibel und wir können die frühen Bindungsverletzungen und Bindungstraumata aus unser Kinderzeit heilen, so dass wir im Hier und Jetzt immer weiter in sichere Bindung hineinwachsen. Wenn wir unsere Schutzmuster würdigen, unsere Bindungsängste und -sehn-süchte wahrnehmen und uns verletzlich zeigen, dann transzendieren wir unsere eigene kleine innere (Schutzwelt), dann darf das Ich am Du entstehen und in dieser Verbindung sicher da sein.

Bindung als „sicheren Hafen“, den wir alle brauchen, drücken für mich die Zeilen des Gedichts „Für Einen“ von Mascha Kaléko aus; schön auch in der vertonten Version von Dota Kehr:

https://www.youtube.com/watch?v=E1qx5XlgK3k

Für Einen

Die Andern sind das weite Meer.
Du aber bist der Hafen.
So glaube mir: kannst ruhig schlafen,
Ich steure immer wieder her.

Denn all die Stürme, die mich trafen,
Sie ließen meine Segel leer.
Die Andern sind das bunte Meer,
Du aber bist der Hafen,

Du bist der Leuchtturm. Letztes Ziel.
Kannst Liebster, ruhig schlafen.
Die Andern … das ist Wellenspiel,

Du aber bist der Hafen.

Mascha Kaléko